Begegnungen mit unbekannten Bekannten
ein Foto-Interview-Projekt
Aus der Frage »Wie immer?« wurde über die Jahre eine Begrüßung und irgendwann ein Ritual im Stammcafé des Fotografen Raymond Jarchow. Die Mitarbeiterin kennt seinen Namen nicht, aber sie weiß: Er ist der »mittlere Cappuccino zum Hiertrinken«. – Sie sind einander unbekannte Bekannte, wie sie jeder hat, der in der Stadt unterwegs ist und aufmerksam und offen ist für Begegnungen in Greifswald: auf dem Wall, dem Marktplatz, in der Langen Straße, am Stadthafen. Diese unbekannten Bekannten sind ein Teil des Gefühls, an einem Ort zu Hause zu sein.
Der Psychoanalytiker Sudhir Kakar schreibt: »Einem meiner Patienten, der lange darauf gewartet hatte, in die USA auszuwandern, ging sein Wunsch in Erfüllung, als er eine gut bezahlte Stelle in New York angeboten bekam. Trotz einer erheblichen Verbesserung seiner materiellen Lebensbedingungen stellte er bald fest, wie unglücklich ihn sein Umzug gemacht hatte. Er vermisste nicht nur seine Familie und seine Freunde, sondern auch die vertrauten Gesichter, denen er jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit in Delhi begegnet war: der Barbier auf dem Bürgersteig, der ihm zunickte, während er einen Kunden rasierte; das Wiedererkennen in den Augen des Gemüseverkäufers, an dem er vorbeiging; das Lächeln eines Kindes auf dem Schulweg, das er nicht persönlich kannte.«
DIE-ZEIT-46-2021-11.11.2021[59]
Das Projekt widmet sich diesen unbekannten Bekannten. Es konkretisiert die flüchtige Begegnung von Angesicht zu Angesicht, es öffnet die Geschichten hinter den Gestalten und lässt sie erzählen, von ihrem Woher und Wohin, ihren Wahrnehmungen und Perspektiven, auf das Leben und die Welt.
Die Ausstellung zeigt so die Wege des Künstlers durch seine Stadt. Die Porträts liefern die Koordinaten für seine Karte der Begegnungen, wie sie auf den Texttafeln als Entstehungsort der Fotografien vermerkt sind. Zutiefst subjektiv und zugleich exemplarisch zeichnet sich das Bild von einer urbanen Gemeinschaft, deren Gesichter einander vertraut sind, die oft genug nicht einmal den Namen des Gegenübers kennen und doch in der Lage sind, einander Halt zu geben – sei es durch ein Lächeln oder eine Frage, die keine Antwort braucht. »Wie immer?«
In den Monaten der Pandemie wurde die Selbstverständlichkeit dieser Gemeinschaft von vielen Menschen entbehrt. Und so erschien ihr Wert darum umso deutlicher. Das Projekt thematisiert besonders auch die Spuren dieser Erfahrungen.
Einige der imaginären Fragen, wie sie den schwebenden Beziehungen mit unbekannten Bekannten eigen sind, wurden im Rahmen dieses Projektes ausgesprochen. Eine Auswahl der gestellten und der ungestellt gebliebenen Fragen des Fotografen findet sich als Satzwolke in der Ausstellung.
Die Interviews wurden für die Ausstellung in Auszügen verschriftlicht und behutsam zu Texten verwoben, die das gesprochene Wort und den sprachlichen Fingerabdruck der Sprechenden erkennen lassen. Sie haben nicht den Anspruch, vollständige Biografien abzubilden. Vielmehr möchten sie in ihrer Gesamtheit ein Mosaik der Erlebniswelten ihrer Protagonist:innen zeigen. Darin mögen sich Subjektivität ebenso wie Allgemeingültigkeit finden.
Ausstellung
in der Galerie des Koeppenhauses, Literaturzentrum Vorpommern, Bahnhofstr. 4/5, 17489 Greifswald
16.11.2023 – 26.01.2024
Lesung
Im Rahmen der Ausstellung hat Daniel Schreiber aus seinen Essays »Allein« und »Die Zeit der Verluste« gelesen.
Fr 08.12.2023
Moderation: Roland Rosenstock